Hocine CHABIRA
« Künstler müssen sich noch mehr einbringen »
Als Leiter des Festivals Passages von 2016 bis 2019 gab Hocine Chabira den Impuls für das europäische Bérénice-Projekt. Seiner Ansicht nach ist ein großes persönliches Engagement des/der Künstlers/-in Voraussetzung für die Durchführung von Projekten mit Menschen im Exil.
Warum wollten Sie, dass Künstler und kulturelle Einrichtungen sich mehr mit der Frage der Einwanderung auseinandersetzen?
Wir befinden uns in einer Zeit des Wandels. Lange hat man von Künstlern und von den kulturellen Einrichtungen erwartet, dass sie kreativ tätig sind und eine Perspektive auf die Welt geben. Sie blieben allerdings manchmal auf Distanz. Heute müssen sie sich noch mehr einbringen, die Ärmel hochkrempeln. Wenn man ein Thema behandelt, muss man sich dieses aneignen, praktische Erfahrungen sammeln. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen, die das Eintreffen von neuen Menschen in unserem Gebiet hervorruft. Das weiß ich genau, als Kind eines aus Algerien immigrierten Handwerkers der Stahlindustrie, das die goldene Zeit des Völkergemischs miterlebt hat. Sehr früh haben mich Identitätsfragen beschäftigt. Das Projekt habe ich Bérénice genannt, nach Racines Tragödie, in Anlehnung an die jüdische palästinische Prinzessin, die vom römischen Volk ausgeschlossen wird.
Viele Ihrer Stücke ließen sich schon von Lebensberichten und Zeugenaussagen inspirieren. Was war hier anders?
Als Regisseur traf ich viele „Experten des Alltags“, von denen ich mich inspirieren ließ. In Passages habe ich mich noch mehr persönlich eingebracht. Ich nahm Exilkünstler mit zu Aufführungen und zu Begegnungen mit weiteren Künstlern. Das ganze Passages-Team hat die Künstler sehr lang und intensiv weit über die eigentliche Aufgabe des Projektes hinaus begleitet. Unsere Dienste wurden für Unterkunfts-, Papier- oder Arbeitsfragen in Anspruch genommen. Sehr früh hat uns diese Dimension der sozialen Betreuung überfordert, darauf hatten wir uns nicht eingestellt. In der Regel stellt sich für mich als Programmleiter die Frage, ob dieser Künstler oder dieses Stück interessant für unser Programm ist. Vor den Schwierigkeiten, auf die Exilkünstler stoßen, tritt diese Frage in den Hintergrund. Ein Künstler kann hervorragend sein; wenn er sich aber in einer schwierigen Situation befindet, wird diese für ihn prioritär und macht ihn arbeitsunfähig. Selbst diejenigen, die unseren Verhaltenskodex scheinbar am besten beherrschen, sind nicht zwangsläufig diejenigen, die sich am wohlsten fühlen. Sie brauchen ebenfalls Betreuung und Sicherheit.
Worauf werden Sie künftig besonders achten?
Ich wurde mir der Last der Behördengänge im nationalen politischen Kontext bewusst, der die Frage der Aufnahme und der Gastfreundlichkeit komplexer macht. Ich weiß nun, wie schwierig es ist, die Menschen, die unsere Sprache nicht beherrschen, nicht wie Kleinkinder zu handeln. Es muss immer wieder neu nach einer Beziehung auf Augenhöhe gesucht werden, bei der der Andere uns auch einiges über uns selbst beibringen kann. Ich habe auch gelernt, langsamer zu arbeiten, es weniger eilig zu haben. Mit manchen Personen ist es wichtig, erst einmal ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Der syrische Schauspieler Hatem Hadawy, den ich sehr viel gesehen habe, weil wir Nachbarn sind, musste erst wissen, wer ich war, bevor wir anfangen konnten, miteinander zu arbeiten. Ich habe ihn beim Durchführen der Workshops El Warsha erlebt. Er nahm sich Zeit fürs Erklären, ließ Raum für Gefühle und Emotionen. Dies bringt mich als Regisseur dazu, vor Beginn eines Workshops eher für eine ausgeglichene und positive Stimmung zu sorgen, ohne sofort – und unbedingt – eine starke Gruppenenergie schaffen zu wollen. Es wurde mir ebenfalls klar, dass die Vermittlungsarbeit die Aufgabe von uns allen ist, auch die eines Leiters. Während des Festivals Passages habe ich einige Zuschauergruppen mit Wörtern aus ihren eigenen Sprachen begrüßt. Die Art und Weise, auf die man die Zuschauer empfängt, macht den Unterschied.