Yseult WELSCHINGER & Eric DOMENICONE
« Die dokumentarische Arbeit ist zum Verfeinern unserer Perspektive unentbehrlich »
Das Stück Je Hurle (Ich schreie) von dem Regisseur Éric Domenicone und der Schauspielerin und Puppenspielerin Yseult Welschinger zählte zu den für die Bérénice-Caravane ausgewählten Projekten. Auslöser der Stückentwicklung war ein Schock: In einem Artikel der Zeitschrift Courier International lasen sie über ein afghanisches Mädchen, das sich selbst in Brand setzte, weil ihm das Schreiben von Gedicht gesetzlich verboten war.
Wie verwandelt sich das Entsetzen im Prozess der Stückentwicklung, wie geht man von Abscheu über zu einer Form des Verständnisses?
Es war ein sehr langer Prozess. Sehr früh kam uns die Idee, ein Stück daraus zu machen, um den Jugendlichen von hier diese Geschichte zu erzählen. Bevor wir uns aber Gedanken über die Form machten, warf dieses Ereignis viele Fragen auf: Was bringt ein 15-jähriges Mädchen dazu, sich wegen des Verbots Poesie zu schreiben sich umzubringen? Vermutlich berührten wir hier das Innerste des nach Zuflucht suchenden Menschen. Es fiel uns schwer, dies nicht zu beurteilen, diese Gesellschaft nicht als unzivilisiert zu betrachten. Allerdings wollten wir diese Annahme auch nicht glauben. Wir wollten verstehen. Wir haben sehr lange nachgeforscht, viele Bücher und Artikel gelesen, uns viele Dokumentar- und Spielfilme angesehen – über die Geschichte Afghanistans, dessen Ethnien, die Lebensbedingungen von Frauen usw. Diese Arbeit, die unsere Kompanie nicht gewohnt ist, hat uns sehr bereichert, hat unsere Ansichten verfeinert. Einiges wird uns immer schockieren, aber letztendlich verstehen wir besser, was zum Beispiel hinter dem Vorrang der Familie, des Clans, steht. Uns wurde ebenfalls klarer, dass sich althergebrachte Herangehensweisen und Verhaltensmuster nicht schnell ändern lassen.
Trotz dieser dokumentarischen Arbeit waren Sie nie in Afghanistan. Wie spricht man von einem Land, das man nie betreten hat?
Wir haben die ehemalige Vize-Frauenministerin Afghanistans, Najiba Sharif, getroffen, die aktuell im Elsass lebt. Sie wurde zu einer wertvollen Informationsquelle. Nach einem Jahr brachte sie uns in telefonischen Kontakt mit der Vorsitzenden des Gedichtzirkels, der die Gedichte dieses Mädchens sammelte, sowie mit Frauen, die dort schreiben. Sie übernahm die Rolle der Dolmetscherin und Übersetzerin. Das Abstandnehmen vom wahrhaftigen Ereignis gab dem Projekt einen neuen Schwung und zog uns gleichzeitig immer persönlicher hinein. Es war erschütternd und beängstigend. Uns wurde klar, worauf wir uns eingelassen hatten, was diese Frauen riskierten, als sie uns heimlich antworteten. Najiba ermutigte uns, weiterzumachen. Diese Frauen mussten wissen, dass wir hier – am anderen Ende der Welt – an sie dachten. Zum ersten Mal wurde uns gesagt: „Wir verlassen uns auf Sie“.
Wie konnten Sie alles was Sie gelernt haben auf der Bühne wiedergeben?
Nach und nach wuchs unser Projekt zu einer investigativen Forschungsarbeit an, wir wollten allerdings partout keinen „Vortrags-Effekt“. Wir haben unser Stück in drei Teile aufgebaut. Ein Teil davon ist mit Absicht rein dokumentarisch und diesen haben wir der Romanautorin Sophie Langevin anvertraut. So konnten wir uns auf die anderen beiden konzentrieren, die die Geschichte dieses Mädchens erzählen. So entstand die außergewöhnliche Form unseres Stückes. Es ist zwar schon auf Tournee, aber die Arbeit geht weiter. Wir würden gerne weiter mit diesen Frauen arbeiten, vielleicht indem wir ihre Gedichte veröffentlichen oder Austausche mit Schuleinrichtungen organisieren. Dieses Abenteuer prägt und beschäftigt uns weiterhin stark.