Michèle PARADON
« Programme anders zu denken, bringt uns dazu, neue Fragen zu stellen »

Als künstlerische Leiterin vom Arsenal, einem der drei Häuser der Cité musicale-Metz, schlug Michèle Paradon viele Musiker/-innen und Choreografen/-innen für das Bérénice-Label vor.

Das Label hatte unter anderem zum Ziel, mehr Vielfalt in die Programme einfließen zu lassen, mit einem Fokus auf Exil- und Identitätsfragen. Lässt sich das einfach umzusetzen?

Unser Programm war schon immer eher offen. Wir hatten uns schon mit gesellschaftlichen Themen (Tierschutz, Gender, Umwelt) befasst. Mit dem Bérénice-Label hat sich aber die Anzahl von Stücken zu den Themen Exil, Identität und Grenzen verdoppelt und entsprach 20% der etwa hundert Stücke – Koproduktionen und Künstlerresidenzen inklusiv, die das Arsenal im Jahr anbot. Das stimmt auch mit einem steigenden Interesse der Künstler an solchen Themen überein, insbesondere im Tanzbereich – zumindest für die Bereiche, die wir abdecken. Im Bereich Tanz ist das Publikum relativ jung und offen für solche Angebote. Vor uns liegt eine große Auswahl an Stücken, die wir ins Programm aufnehmen könnten, so dass wir unsere Kriterien genauer festlegen und so Themen, die zu pädagogisierend sind, vermeiden können. Wir müssen auch darauf achten, dass sich das Publikum nicht langweilt.

Ist die Musikszene exkludierender?

Ja, zumindest denke ich das. Die Auswahl an Stücken ist kleiner. Als wir mit dem Komponisten Alexandros Markes das Projekt Eine andere Odyssee über im Meer ertrunkene Migranten starteten, hatten wir große Schwierigkeiten, Partner zu finden. Viele fanden das Thema zu heikel und dachten, dass wir nicht den nötigen Abstand hätten und damit kein Geld verdienen dürften. Fachleute, auch in staatlichen Einrichtungen, waren zögerlicher als das Publikum. Das Stück tourte nicht so viel. Es war für mich eine Enttäuschung. Meiner Meinung nach sollte auch die Musik politische Themen aufgreifen. Nicht nur die Vergangenheit neu interpretieren, sondern die Gegenwart erfassen und sich mit der Zukunft auseinandersetzen.

Ist die bindende Vorschrift des Labels positiv?

Ja, sie wirft neue Fragen auf und führt uns aus unserer Komfortzone heraus. Sollte zum Beispiel die Gruppe Afghani Divan, die traditionelle Musik aus Afghanistan spielt, mit dem Bérénice-Label versehen werden? Die Musiker sind zwar im Exil, ihre Musik stammt aber nicht aus dem Exil, entstand nicht auf einer Reise. Sich solche Fragen zu stellen, bereitet einen dann doch schon Schwindel. In dieser Hinsicht war der Austausch mit Passages begeisternd. Vor allem, weil diese Kriterien der Einordnung zwar notwendig sind, aber zu keiner Standardisierung solcher Stücke führen sollten. Unser Publikum – besonders im Tanzbereich – mag es, aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Nuancen sind von großer Wichtigkeit. Das Stück Monster hat mit seinem Musical-Stil die Zuschauer verzaubert, obwohl es von der Diktatur im Kongo erzählte. Casa Tanzen war sehr fröhlich. Seit einigen Monaten merke ich, dass Choreografen dazu neigen, traditionelle und kollektive Tänze neu zu bedenken und sich mit der Frage des Gesellschaftlichen auseinanderzusetzen. Wir sind nur am Anfang des Nachdenkens!